Veröffentlichung (natural horse | 2015 | Ausgabe 4)
Ambivalenz und Selbstwert im Umgang mit Pferden
Pferde brauchen Klarheit
Foto: Birgit Lehner
Kennen Sie das Gefühl, dass Sie etwas wollen, und es scheitert bei der Umsetzung einfach daran, dass Ihr Pferd etwas ganz anderes macht?
Keine Angst – Sie sind nicht allein. Vielen Pferdefreunden geht es ebenso. Das Zauberwort ist Ambivalenz. Denn eines ist klar: Solange ich ambivalente Gedanken und Gefühle habe, kann mein Pferd nicht mit mir in Harmonie schwingen. Zu unsicher sind die Überlegungen und Empfindungen, und Pferde brauchen Sicherheit. Doch was ist Ambivalenz überhaupt, und wie beeinflusst sie die Beziehung zu meinem Pferd?
„Ich möchte mit Stormy heute einen frischen Spaziergang im flotten Schritt unternehmen, der ihn gut in Bewegung bringt. Grasen kann er danach auf seiner Weide. Während des Spaziergangs wird heute nicht gegrast.“ So nimmt es sich Caroline S. für sich und ihr Pferd Stormy vor. Dann passiert jedoch Folgendes:
Kaum dreht Stormy auf dem Spaziergang seinen Kopf in die Richtung der schönen Wiese,
auf der das Gras viel höher und grüner wächst als auf seiner eigenen, gerät Carolines Vorsatz ins Wanken. „Vielleicht sollte ich ihn hier doch mal grasen lassen, nur ein wenig, das Gras sieht besonders appetitlich aus. Ich verstehe ja schon, dass er seinen Kopf gar nicht abwenden kann von dieser Wiese …“
Caroline ist ambivalent. Ihr geht es oft so wie gerade neben dieser Wiese, sie ist generell eine Person, die zu Ambivalenz neigt. Denn Ambivalenz zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Manchmal ist sie der Meinung, man dürfe auf keinen Fall sein Licht unter den Scheffel stellen, dann wieder sagt sie, Bescheidenheit sei eine Zier. Manchmal ist sie zwischen diesen beiden Glaubenssätzen hin- und hergerissen.
Sie denkt Dinge, die man gleichzeitig eigentlich nicht denken kann, und fühlt im selben Moment sich widersprechende Empfindungen. Caroline umgibt sich auch gern mit
Menschen, die ähnlich sind. Sie unterstellt ihnen emotionale und geistige Tiefe, findet ihre
Gesellschaft anregend und die Gespräche mit ihnen interessant.
Während Caroline mit Stormy an der Wiese entlanggeht, fühlt sie sich unwohl und weiß nicht, warum. Ihr Verstand sagt ihr, dass sie aus einer Mücke einen Elefanten macht, aber das nützt nichts. Sie fühlt sich immer unwohler. Stormy dreht den Kopf immer stärker zur Wiese hin und Caroline weiß nicht, was sie machen soll. Gleich hat er die Nase in der Wiese … Caroline sitzt in der Ambivalenzfalle.
Was ist Ambivalenz eigentlich?
Positiv ausgedrückt kann man sagen: Ambivalenz ist Offenheit für die Tatsache, dass Menschen und Dinge oft nicht eindeutig sind. Ambivalenz bedeutet, Gegensätzliches aushalten zu können und zu akzeptieren. Negativ ausgedrückt ist Ambivalenz das Gegenteil von Klarheit. Wer ambivalent empfindet, denkt und handelt, ist unklar und unsicher, weil er zwischen dem Einerseits und dem Andererseits hin- und hergerissen ist und sich nicht für eins von beiden entscheiden kann.
Nur wenn wir lernen, mit unserem Pferd im Hier und Jetzt präsent zu sein, ist ein gemeinsamer Weg möglich.
Foto: Birgit Lehner
Im Hier und Jetzt sein
Wer ein ambivalenter Typ ist und mit Pferden zu tun hat, macht es dem Pferd nicht leicht. Genauer gesagt ist ein Mensch, der seiner Ambivalenz auch im Zusammensein mit einem Pferd gewohnheitsmäßig und unreflektiert nachgeht, eine Zumutung für das Pferd.
Pferde sind Fluchttiere. Wenn Pferde auf Ambivalenz treffen, sind sie gut beraten, das Weite zu suchen. Pferde kennen keine Ambivalenz. Sie ist ihnen so fremd wie Gefühle der Rache, des Hasses, des Neids, der Sorge. Tiere leben im Hier und Jetzt, sie kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur pure Präsenz im Augenblick.
Das haben sie uns Menschen voraus; unsereins kämpft in jahrelangen Meditationsübungen dafür, das reine Sein zu erfahren, und ist schon dankbar, wenn er mal einen kurzen Moment in der Lage war, die Endlosschleife seiner Gedanken
abzuschalten.
Pferde laden uns dazu ein – wenn wir uns darauf einlassen –, uns bei jedem Zusammentreffen mit ihnen voll und ganz aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren, ganz im Augenblick zu sein und Sorgen, Zweifel und Nöte des Alltags draußen zu lassen. Dieses Geschenk können Pferde uns geben, und vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass wir sie so lieben und ihre Gesellschaft suchen, denn Sein im Hier und Jetzt tut einfach gut und lässt die Seele auftanken.
Unsicherer Mensch – unsicheres Pferd
Pferde schätzen nicht nur die Abwesenheit von Ambivalenz, sie sind für ihre Sicherheit und ihr Überleben instinktmäßig darauf angewiesen. Wir schulden ihnen daher Nichtambivalenz. Immer wieder liest man, wie wichtig es ist, dass wir gegenüber unseren Pferden authentisch sind. Wer in seinem Alltag zur Ambivalenz neigt, ist – oberflächlich betrachtet – nur dann authentisch, wenn er seiner Ambivalenz freien Lauf lässt.
Für das Beispiel mit der grünen Wiese hieße das: Ich lasse mein Pferd grasen und schieße meinen Vorsatz, dass während des Spaziergangs heute nicht gegrast wird, in den Wind.
Können Sie entspannt bleiben, wenn Sie Ihr Pferd (entgegen dem ursprünglichen Plan) grasen lassen? Regt sich kein bisschen innerer Groll in Ihnen, weil Sie sich heimlich wieder einmal über Ihre innere Schwäche ärgern und glauben, zu weich gewesen zu sein? Dann geht das Grasen lassen in Ordnung. Wenn Sie das nicht können, sollten Sie Ihr Pferd nicht grasen lassen – auch wenn Sie sich dann wie ein schlechter Mensch fühlen. Ihr Pferd wird den Unterschied spüren (und schmecken). Ich bin überzeugt davon, dass Pferde unseren inneren Dialog mit seinem zweifelnden, ambivalenten Inhalt wahrnehmen und sich mit uns dann nicht wohlfühlen – obwohl wir so „nett“ zu ihm sind, es grasen zu lassen. Pferde verstehen kein „Nett“, sie verstehen nur entschieden oder unentschieden, klar oder unklar, sicher oder unsicher.
Wenn Ambivalenz im Zusammensein von Mensch und Pferd auftaucht, ist sie in Wahrheit oft Unentschiedenheit, Unklarheit, Unsicherheit. Und das schmeckt Pferden gar nicht. Ist man innerlich hin- und hergerissen und weiß nicht genau, was man will, während man mit seinem Pferd arbeitet, wird man es an seiner Körpersprache deutlich sehen und spüren, wenn man Augen, Ohren und Herz offen hält. Wer Hemmungen hat, seinem Pferd klare Anweisungen zu geben und klare Grenzen zu setzen, weil er das in seinem inneren menschlichen System zu „hart“ findet, wird sein Pferd in Unsicherheit stürzen und sich selbst gleich mit, denn ein Pferd, das sich nicht sicher fühlen kann, kann bekanntlich gefährlich für den Menschen werden.
Wenn der Verstand das einmal begriffen hat, dann reicht das aber leider noch lange nicht. Veränderbar sind solche inneren Überzeugungen nur dann, wenn unser Gefühl das auch „verstanden“ hat. Aber Gefühle sind viel hartnäckigerals Gedanken.
Immer wieder erkennt Caroline, dass sich ihr Pferd gern Menschen zuwendet, die sie persönlich nicht so sympathisch findet. Wenn sie länger darüber nachdenkt, stellt sie oft fest, dass das Menschen sind, die sie – wenn sie ihren Vorurteilen freien Lauf lässt – als hart, streng, einsilbig, gar einfältig, eindimensional, uninteressant bezeichnen würde. Wenn die unfeinen Bewertungen und Abwertungen wegfallen, dann muss sie sich eingestehen, dass alle diese Leute Klarheit ausstrahlen und den Eindruck erwecken, Sicherheit geben zu können. Weil zwischen ihr und diesen Leuten die Chemie nicht stimmt, pfeift sie auf deren Klarheit und Sicherheit, aber ihr Pferd nicht.
Das Wort „Chemie“ ist durchaus ernst gemeint. Wenn wir mal davon ausgehen, dass Pferde feinstoffliche Energien weitaus sensibler wahrnehmen, als wir Menschen das jemals könnten, verwundert es nicht, wenn Pferde sich genau solchen Energien zuwenden, die sie im Ernstfall besser überleben lassen. Wer sicher und klar ist, ist in der Regel jemand, der Leader-Qualitäten hat. Und das ist für ein Pferd, das gerade nicht mit seinen Herdenkollegen friedlich grasend auf der Koppel steht, ein selbstbewusster Mensch mit klaren Gedanken, klaren Gefühlen und klarem Verhalten.
Schluss mit dem inneren Theater!
Wer zu denen gehört, in deren Brust mindestens zwei Seelen wohnen, die ständig miteinander diskutieren, wer das Sagen hat, sollte den inneren Dialog ausschalten, wenn er sich einem Pferd nähert. Man muss es üben, immer wieder. Man muss sich zur inneren Entschiedenheit und Klarheit regelrecht zwingen, und das fühlt sich zunächst nicht so großartig an. Als Carolinees probierte, hatte sie den Eindruck, nicht sie selbst zu sein. Als sie neben Stormy an grünen Wiesen vorbei durch die Landschaft spazierte, hatte sie das Gefühl, zu „hart“ und zu „streng“ zu sein. Innerlich entschuldigte sie sich bei Stormy für ihre „militärische Art“. Sie hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Pferd, was Stormy sofort mit besonders hartnäckigem Ziehen mit dem Kopf in Richtung Wiese quittierte, und das vergrößerte das schlechte Gewissen nur noch mehr. All das kannte sie zur Genüge, und sie fragte sich, warum sie diese blöde Übung überhaupt machte.
Nach ein paar Versuchen gelang es ihr schon besser, ihr inneres Kopftheater auszuschalten. Stormy legte einen Schritt zu und ging zu Carolines Erstaunen viel zügiger mit als sonst. Dennoch hatte sie mit nur diesem einen Gedanken im Kopf: „Heute wird auf dem Spaziergang nicht gegrast. Heute wird auf dem Spaziergang …“,
immer wieder das merkwürdige Gefühl, genau so zu sein wie die Leute, die sie nicht leiden konnte: hart, streng, einsilbig, einfältig, eindimensional, uninteressant.
In dieser Phase haben ihr tiefe Bauchatmung und entspannte Schultern beim Spaziergang geholfen. Manchmal merkte sie, wie Stormy genau in dem Moment hörbar abschnaubte, in dem sie innerlich loslassen und ihren Atem tief ins eigene Becken schicken konnte. Sie achtete auf eine entspannte, aufrechte Haltung und sorgte für einen sicheren Stand, indem sie unter ihren Füssen Wurzeln in den Boden wachsen ließ und die Knie nicht ganz durchdrückte, sondern locker ließ.
Stetige Übung mit zunehmenden Erfolgserlebnissen wird Carolines Verstand, der das Neue
längst begriffen hat, immer wieder bestätigen. Wenn Carolines Körpergefühl und damit ihr Verhalten dauerhaft verändert ist und der Verstand es endgültig abgespeichert hat, wird das Gefühl langsam, aber sicher folgen und sich dauerhaft verändern können.
Wer innere Zweifel hat, darf sich nicht wundern, wenn sein Pferd eigene Wege geht.
Foto: Birgit Lehner
Gute Führung – aber wie?
Wer sich schwer damit tut, klar und entschieden im Umgang mit dem Pferd zu sein, hat wahrscheinlich selbst nie erlebt, wie wohltuend klare, entschiedene Führung ist – weil sie nämlich Sicherheit gibt. Er kann im Innersten nicht glauben, dass es so etwas wie liebevolle, halt-gebende Führung wirklich gibt. Wie auch, wenn er es selbst nicht erfahren hat? Wer Führung nur als harte Führung erlebt hat, die keine Sicherheit gab, sondern nur Verunsicherung, Einschüchterung und Furcht, möchte seinem Pferd verständlicherweise diese schlechte Führung, also jede Art von Härte, ersparen und es besser behandeln. Er merkt aber, dass ihm dafür das innere Werkzeug fehlt. Weil er nicht weiß, was gutes Führen ist und wie sich gutes Führen für den Führenden und den Geführten anfühlt, erspart er dem Pferd im Ergebnis jegliche Führung.Berlins.
Nur wer sich seiner selbst bewusst ist, ist auch seinem Pferd gegenüber selbstsicher. So kann das Pferd auch auf seinen Menschen vertrauen.
Foto: Lisa Wende
Die Sache mit dem Selbstwert
Veränderung ist vor allem eine Reise durch ein unangenehmes Gefühl. Dahinter verbirgt sich oft ein geringes Selbstwertgefühl, ausgelöst durch stetige Erfahrungen mit „schlechter Führung“. Auch jemand, der in Familie und Beruf seinen Mann oder seine Frau steht, kann ein Selbstwertproblem haben. Selbstwertverletzungen geschehen oft früh im Leben eines Menschen. Die auslösenden Ereignisse werden verdrängt, und so lebt man jahrzehntelang darüber hinweg, hat vielleicht dieses oder jenes Problem, und man kommt nicht auf die Idee, es könnte mit einem geringen Selbstwertgefühl zu tun haben. Kaum umgibt man sich mit einem Pferd, tritt der mangelnde Selbstwert als Unentschiedenheit, Unklarheit und Unsicherheit zutage. Um die Tarnung nicht aufzugeben, sorgt unser Ego dafür, dass wir Entschiedenheit, die wir bei anderen Menschen sehen, als „Härte“, Klarheit als „Eindimensionalität“ und Konsequenz als „Strenge“ deuten.
In Wirklichkeit sind wir einfach nur unsicher, weil wir nicht glauben können, dass wir ein liebenswerter Mensch sind, trotz und wegen all unserer Fehler und Schwächen. Und wenn wir uns selbst nicht bedingungslos mögen, können wir von uns auch nicht glauben, dass wir gute Führer sind.
Wie finden wir in uns den Menschen, der liebevoll und sicher führen kann? Hilfreich ist auf alle Fälle, dass wir uns auf der Suche nach uns selbst mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Ebenso wichtig ist aber, dass wir in unserem jetzigen Leben nach Kraftquellen suchen. Suchen Sie gezielt nach Situationen, in denen Sie nicht ambivalent waren. Wie haben Sie es in dieser Situation geschafft, klar und entschieden zu sein? Welche positive Wirkung hatte das auf Ihre Umgebung? Wie hat sich das in Ihrem Körper angefühlt?
Spielen Sie eine erdachte Situation durch, in der Sie eine „gute Führerin“ sind, stellen Sie sich diese Fragen erneut und geben Sie sich selbst die Antworten. Und wenn Sie das nächste Mal zu Ihrem Pferd gehen, nehmen Sie Ihre Antworten
mit.
Mechtild Blankenagel
Sie weiß seit zehn Jahren, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Pferd all ihre Stärken und Schwächen spiegelt. Ihr 19-jähriger Wallach Zilio ist ihr größter Lehrer. Als systemische Therapeutin berät sie Familien, Paare und Einzelpersonen. Darüber hinaus ist sie Autorin; ihre Kurzgeschichten liest sie regelmäßig an verschiedenen Plätzen Berlins.