Frauen sind nicht nur Opfer: Was tun gegen die weibliche Selbstdemontage?
Mechtild Blankenagel
Berliner Zeitung am 02.10.2024
Wir leben in einer Zeit, in der es nicht nur opportun, sondern geradezu modisch geworden ist, die Verletztheit unserer weiblichen Gefühle mit Empörung und größtmöglicher medialer Breitenwirkung auszusprechen und diejenigen, die uns das emotionale Unbehagen wirklich oder vermeintlich zugefügt haben, öffentlich anzuprangern. Vor dem Hintergrund dieses Jammer-Zeitgeistes fällt es denklogisch schwer, nach eigenen Anteilen am eigenen Elend zu suchen. Das fällt mir auch in meiner Tätigkeit als systemische Beraterin auf. Ich berate Frauen, Männer, Familien und Paare.
Auffällig ist, dass sich neben den Frauen fast jede andere gesellschaftliche Gruppe ihr Opferproblem groß auf die Fahne schreibt. Es scheint nicht angesagt zu sein, sich selbst kritisch auf den Zahn zu fühlen. Da Differenziertheit und Ausgewogenheit nicht gerade die herausragenden Merkmale des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses sind, muss an dieser Stelle betont werden, dass ich keineswegs leugne, dass patriarchalische Strukturen die Gleichberechtigung und -behandlung von Frauen nachhaltig hintertreiben.
Frauen, die sich allein oder mit ihren Partnern in meiner Praxis für systemische Beratung in Berlin beraten lassen wollen, leiden an all dem, von dem man in den Zeitungen liest. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? Von wegen, Gender-Pay-Gap. Gleichberechtigung innerhalb der Partnerschaft? Pustekuchen, die Lockdowns haben gezeigt, wie geschickt Männer darin sind, den Frauen während deren Homeoffice-Verpflichtungen das Kleinkind auf den Schoß zu drücken und ihnen das Homeschooling mit dem älteren Kind noch obendrauf zu packen. Wer pflegt die alten Eltern? Tochter oder Sohn? Dreimal darf man raten. Und wie ist es, wenn die Frau auf ihrem Weg nach oben dieselben Raubtierallüren an den Tag legt, wie ein Mann das mit der größten Selbstverständlichkeit tut? Dann ist sie aggressiv – igitt.
Die wütende Frau gilt schnell als hysterische Zicke; Männer, die ihrem Ärger freien Lauf lassen, werden hingegen als stark und selbstsicher aufgefasst, wie auch die Autorin Ciani-Sophia in ihrem 2021 erschienenen Buch „Wut und Böse“ herausgearbeitet hat.
Es liegt nicht nur an den Männern
Ich leugne keine dieser himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Wie kann das alles aufhören? Oft beschuldigt man die Männer, die dafür sorgen würden, dass es mit der Gleichberechtigung der Frauen immer noch hakt. Mich interessiert aber eben auch, was es mit den inneren Widersprüchen und anderen psychischen Hindernissen auf sich hat, die sich über die Jahrhunderte scheinbar in den Tiefen der weiblichen Seele eingenistet haben. Sollte man sich diese nicht einmal genauer ansehen, wenn man den Frauen wirklich etwas Gutes tun will?
Ich werbe dafür, den Blick nach innen zu wenden, denn wenn Frauen beginnen, sich von innen heraus kritisch zu hinterfragen und auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse zu verändern, werden sie weniger anfällig sein für Hemmnisse, die ihnen eine vielleicht oft ungerechte Außenwelt präsentiert. Sie brauchen dann keine feministische Ideologie, die sie vermeintlich trägt, weil frau sich fortan selbst trägt. Ideologien und moralische Empfehlungen samt verordneten Opferrollen können mit der Veränderung des Zeitgeistes (oder der regierenden Partei) wegbrechen, Selbsterkenntnis und eine stabile Psyche nicht.
Nur wenn wir Frauen uns in allen Facetten wertschätzen und aufrichtig mögen, werden wir mit derselben Intensität und Selbstverständlichkeit darauf bestehen, dass andere uns Achtung und Wertschätzung entgegenbringen. Da kann uns keine noch so mitfühlende öffentliche Meinung oder mediale Aufmerksamkeit hinbewegen. In meiner eigenen Beratungspraxis wird immer wieder deutlich: Das ist Arbeit mit und am eigenen Selbst. Wenn die Mütter der heute erwachsenen Frauen ihren Töchtern in dieser Hinsicht nichts Brauchbares mitgegeben haben, müssen Frauen ihren stabilen Selbstwert bis in die letzte Faser selbst erfinden. Emotionale Gewissheiten („Ich bin weniger wert als ein Mann“) werden genauso wie Traumata transgenerational weitergegeben. Diese negativen Überzeugungen lenken unser Verhalten, ohne dass unser Verstand rechtzeitig gegensteuern kann.
Nicht selten führt das zu einer Art unbewusster Selbstdemontage aufseiten der Frauen, auch in ganz alltäglichen Situationen wie bei einem Vorstellungsgespräch: „Häufig erlebe ich fachlich und persönlich hervorragend geeignete Frauen (und zwar um Längen besser als ihre männlichen Mitbewerber), die leider, anstatt ihre Stärken zu betonen, wertvolle Zeit auf das Herausarbeiten ihrer nicht vorhandenen Kompetenzen verwenden“, sagt etwa Thomas Hartenfels, Senior Director des Personalberatungsunternehmens Robert Walters Germany.
Frauen und Männer müssen voneinander lernen
Wenn ich an meine eigene Beratungstätigkeit denke, fallen mir viel mehr Frauen als Männer ein, die mit Empathie und sozialer Intelligenz ausgestattet sind. Das ist einerseits gut. Andererseits kippen diese Tugenden nicht selten in überbordende Fürsorglichkeit und Aufopferung für andere bis zur Selbstaufgabe und Erschöpfung. Das, was Frauen leisten, ist zwar in gewisser Hinsicht gesellschaftlich notwendig (man denke nur an die Versorgung von Kindern oder Alten), aber es wäre gut, wenn sich Männer davon eine Scheibe abschneiden würden und die Frauen sich andererseits einiges von der Selbstsucht und dem Egoismus der Männer abschauen würden.
Mehr körperliche und seelische weibliche Eigenliebe könnte meines Erachtens durchaus ein Katalysator für mehr Gleichstellung sein, weil konsequente Selbstliebe Frauen erst in die Lage versetzt, zu bestimmen, welche Grenzen sie gewahrt wissen und welche Barrieren sie brechen wollen. Nur wer in dieser Hinsicht klar ist, wird seine Wünsche durchsetzen können.
Apropos Wünsche: Man mag es kaum aussprechen, aber Frauen definieren sich in einem Umfang, der ihnen kaum bewusst sein dürfte, darüber, wie sie dem Mann gefallen können. Sandra Konrad hat das in ihrem 2017 erschienenen Buch „Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will“ eindrucksvoll herausgearbeitet. Nicht eigene erotische Vorstellungen und Wünsche prägen demnach die Selbstdarstellung und das Verhalten der Frau beim heterosexuellen Sex; vielmehr orientiert sie sich an dem, was der Mann von der Frau erwartet bzw. erwarten könnte.
Dieses Phänomen ist altersübergreifend und in meinen eigenen Paarberatungen ein heikles Thema. Bei Frauen über 50, die seit über 20 Jahren mit demselben Mann verheiratet sind, ist es genauso zu beobachten wie bei jungen Paaren. Statt sich die eigene Blackbox und die Scheu, sie auszuleuchten, einzugestehen, beschweren sich Frauen über ihre „unersättlichen“ Partner und wählen als Ventil häufig ein trotziges Plädoyer für sexuelle Inappetenz. Teil dieser Blackbox ist nicht zuletzt ein den Frauen meist nicht bewusstes Schuldgefühl, das sie regelmäßig überfällt, wenn der Mann etwas will, was sie gar nicht oder anders wollen.
Dass man den Mann nicht allzu oft „enttäuschen“ sollte, haben Frauen von ihren Müttern und Großmüttern gelernt und verinnerlicht, ohne dass in der Erziehung darüber jemals auch nur ein Wort gewechselt worden wäre. Wenn Frauen voller Scham- und Schuldgefühle sind, dann ist es kein Wunder, dass sie den Männern nichts verraten von ihren heimlichen sexuellen Wünschen – und kein Wunder, dass viele Frauen ihre sexuellen Vorlieben noch nicht einmal kennen. Ironischerweise findet all das heute in einer Welt statt, in der ständig von „Sex Positivity“ und „Body Positivity“ die Rede ist und insbesondere Frauen diese Schlagworte vor sich hertragen.
Festzuhalten bleibt, dass eine Welt, die in Jahrhunderten von Männern nach deren Regeln geformt wurde, bislang wenig Raum für den – zugegebenermaßen irritierenden – Facettenreichtum und die Widersprüchlichkeiten des weiblichen Selbstverständnisses lässt. Veränderung liegt nicht nur in der Hand der Männer, sondern ist auch Aufgabe der Frauen selbst. Wenn es nun einmal leider so ist, dass viele Frauen lieber gefallen wollen, als die Mühsal auf sich zu nehmen und zu überlegen, was sie selbst wollen, dann müssen die Frauen mehr dafür tun, damit sich das ändert. So mühsam es ist: Für den weiblichen Blick auf sich selbst, ist der Blick nach innen unabdingbar.
Mechtild Blankenagel ist promovierte Juristin und systemische Beraterin. Nach langer Anwaltstätigkeit entschied sie sich 2009 für einen Berufswechsel und berät seit 2013 in Berlin Paare, Familien und Einzelpersonen.
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