Veröffentlichung (natural horse | 2016 | Ausgabe 2)


Das Pferd als Spiegel…
… menschlicher Traumata


Foto: Birgit Lehner

Wer sich den Traum vom eigenen Pferd erfüllt, macht manchmal unverhofft Bekanntschaft mit den verschatteten Seiten seiner Seele. Der Umgang mit dem Pferd beim gegenseitigen Kennenlernen und bei der Ausbildung des Pferdes kann unerkannte traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit ans Tageslicht bringen. Was sich zunächst wie eine Katastrophe anfühlen mag, birgt eine Chance, dem Leben eine neue Wendung zu geben. Doch wie können wir diese Chance für uns und die Ausbildung unseres Pferdes nutzen
Fragt man Leute, wie sie ihr Pferd kennengelernt haben, hört man verblüffend ähnliche Geschichten. Oft reichte ein Blick von fern auf die Weide, und die Entscheidung war gefallen. Ob das Pferd so war, wie man sich das vielleicht schon seit dem zehnten Lebensjahr erträumt hatte, war plötzlich egal. Manche erzählen sogar, sie hätten das Gefühl gehabt, das Pferd hätte sich den Menschen ausgesucht, nicht der Mensch das Pferd. Pferdekauf hat also offenbar nichts mit dem Kopf zu tun.
Wenn wir uns in ein Pferd verlieben und es „ganz für uns“ haben wollen, fühlen wir uns angezogen von seiner Schönheit und Kraft und begegnen damit Urbildern des Weiblichen und des Männlichen. Gleichzeitig werden wir im Zusammensein mit ihm konfrontiert mit Themen aus unserer eigenen Kindheit – auch wenn wir das nicht merken. Versorgung, Erziehung und Ausbildung unseres Pferdes sind eine komplexe Angelegenheit, in der wir selbst wechselnde Rollen einnehmen: Wir sind Mutter, wenn wir unser Pferd putzen und füttern. Wenn wir auf dem Rücken des Pferdes sitzen, fühlen wir uns vielleicht wie ein Kind, das sicher getragen wird. Möglicherweise hat das Reiten aber auch eine sexuelle Komponente, in der das Kind wieder Frau wird. Wenn wir unser Pferd erziehen, müssen wir seine Kraft bändigen; hier können wir eine männliche, vielleicht auch väterliche Seite in uns erleben, die sich in Durchsetzungsfähigkeit und notfalls eigener Kraftentfaltung äußert, wenn wir dem ungestümen Temperament eines jungen Pferdes Einhalt gebieten müssen.

Auch dem Pferd weisen wir manchmal unbewusst menschliche Rollen zu. Wer hat nicht schon vom Pferd als Kindersatz oder Partnerersatz gehört?
Von all diesen unterschiedlichen Rollen merken wir in der Regel nichts und sie stören auch nicht. Wenn aber etwas in der Ausbildung nicht rund läuft und sich immer öfter ungute, bedrohliche Gefühle in unser Zusammensein mit dem Pferd einschleichen, könnte es sein, dass wir – ohne es zu merken – alten traumatischen Erfahrungen begegnen. Tief verborgene Traumata aus der Vergangenheit können wachgerufen werden, von denen der oder die Betroffene bis dahin nichts geahnt hat.

Trauma und Flashback

Ein Trauma wird erzeugt durch ein Ereignis, das als Lebensbedrohung empfunden wird und das zu extremen psychischen Belastungen führt. Die Reaktion auf ein solches Ereignis wird allein vom Stammhirn, dem ältesten Teil unseres Gehirns, gesteuert, und zwar ausschließlich über Reflexe. Wenn die Reflexe Angriff oder Flucht nicht möglich sind, erstarren wir mitten im Geschehen oder brechen innerlich zusammen. Dieser Moment ist der Beginn des traumatischen Erlebens: Wenn wir erstarren, versteifen sich unsere Muskeln, und wir fühlen uns wie gelähmt vor Angst. Haben wir hingegen das Gefühl, dass uns der sichere Tod bevorsteht, kollabieren unsere Muskeln, „als entwiche ihnen alle Kraft. … Dieses Zusammenbrechen, das Gefühl der Vernichtung und der Verlust des Lebenswillens bilden häufig den Kern tiefer Traumen“ (Peter Levine, Sprache ohne Worte, S. 73).

Traumatisches Erleben erfolgt also reflexartig und ist damit abgekoppelt vom Großhirn und vom Verstand, der seinen Sitz im Großhirn hat. Da unser Alltagsgedächtnis (sogenanntes explizites Gedächtnis) ebenfalls im Großhirn angesiedelt ist, wird traumatisches Geschehen vergessen (dissoziative Amnesie). Gespeichert sind die Informationen nur im sogenannten impliziten Gedächtnis, das mit dem Großhirn nichts zu tun hat.

Um die Reaktion auf die Gefahr zu optimieren, sorgt das Gehirn mittels Hormonausschüttung für eine Reizüberflutung. Diese führt langfristig zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegen bestimmte emotionsgeladene Situationen. Gerät man durch einen bestimmten Auslöser oder Schlüsselreiz (= Trigger) in eine dem traumatischen Ereignis ähnliche Situation, werden die Inhalte des impliziten Gedächtnisses plötzlich wieder abgerufen. Das nennt man Flashback. In der Regel ist dieses Wiedererleben so stark, dass der Betroffene die Erfahrung mit aller Gefühlsintensität wieder durchlebt. Gleichzeitig ist es unfähig, die Erfahrung als Erinnerung zu erkennen. Die Preisgabe solcher Trauma-Erinnerungen erfolgt nämlich selektiv: Nur Bruchstücke treten an die Oberfläche, seien es Töne, Gerüche, blitzlichtartige, verwirrende Bilder oder Körperwahrnehmungen – zum Beispiel Schmerzen.

Frühkindliches Trauma

Frühkindliche traumatische Erlebnisse können durch das Pferd an die Oberfläche gelangen. Foto: Birgit Lehner

Traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit sind meistens punktuelle Ereignisse, die im Kind heftige Verlassenheitsgefühle auslösen. Das Trauma ergibt sich daraus, dass das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, auf eine bestimmte Grundhaltung der ersten Bezugspersonen (meistens der Eltern) zurückzuführen ist, die sich insbesondere in einem Mangel an liebevoller Hinwendung zum Kind äußerte. Ursachen hierfür können unter anderem Gefühlsarmut oder -leere der Bezugspersonen sein. Ausschlaggebend dafür, ob ein Trauma entsteht oder nicht, ist aber auch die seelische Konstitution und genetische Ausstattung des Kindes.
Traumatisierungen in der vorsprachlichen Phase der ersten Lebensmonate (oder sogar vor der Geburt) sind besonders prägend und können zudem kaum erinnert werden, da die ersten dauerhaften Erinnerungen in der Regel erst mit dreieinhalb Jahren einsetzen.

Das Pferd als Trigger

Je enger die emotionale Bindung zum Pferd ist, desto wichtiger ist uns das Wohlbefinden dieses Pferdes. Deshalb ist die Beziehung zum eigenen Pferd nicht zu vergleichen mit der Beziehung zu einem Pferd, das jemand anderem gehört und an dem wir vielleicht eine Reitbeteiligung haben. Die Kombination aus enger Bindung und alleiniger Verantwortung kann jemanden, der an einem unerkannten Trauma leidet, schnell in einen Zustand dauerhafter emotionaler Überforderung bringen.

Wenn wir unser Pferd ausbilden und in bestimmten Situationen mit ihm plötzlich von diffusen, unangenehmen Gefühlen und vielleicht auch Körperempfindungen heimgesucht werden, wissen wir in der Regel nicht, was los ist. Wir merken nicht, dass wir es mit einem Flashback zu tun haben, und meinen, das Pferd sei das Problem, da unsere unguten Gefühle nur im Umgang mit ihm auftauchen.

Beispiel 1:

Utas fünfjähriges Pferd hat eine Verletzung. Der Tierarzt sagt ihr, es werde wieder vollständig gesund, sie müsse es aber eine Weile schonen. Trotz der Worte des Arztes nehmen Utas Sorgen um das Pferd überhand. Traurigkeit überfällt sie, wann immer sie zu ihrem Pferd fährt, manchmal muss sie sogar weinen. Und wenn sie neben dem Pferd steht, bekommt sie unerklärliche Schuldgefühle, obwohl die Verletzung nicht durch ihr Verhalten verursacht wurde. Uta findet ihre Gefühle übertrieben und unangemessen. Ihr wird klar, dass sie eine derartige emotionale Intensität bisher weder gegenüber ihrem Mann noch gegenüber ihrer vierjährigen Tochter erlebt hat. Das ist ihr peinlich und unheimlich.

Wer von Sorgen um die Gesundheit seines Pferdes gequält wird, deshalb vielleicht auch öfter den Stall wechselt und in jedem neuen Stall wieder etwas findet, das der Gesundheit des Pferdes abträglich sein könnte, sollte sich fragen, ob der Grund dafür vielleicht unverarbeitete Defizitgefühle aus der eigenen Kindheit sind. Den Hang zu sorgenvollen Gedanken, Traurigkeit und unerklärlichen Schuldgefühlen findet man häufig bei Menschen, die als kleines Kind das Gefühl hatten, von der Mutter nicht hinreichend umsorgt, unterstützt und verstanden worden zu sein. Die verletzte Seele versucht hier, sich selbst zu helfen: Das Versäumnis der Mutter soll mit der überbordenden Sorge um das Pferd wiedergutgemacht werden: „Du sollst es besser haben, als ich es damals hatte.“

Beispiel 2:

Anja kann mit ihrem vierjährigen Wallach auf dem Reitplatz die schwierigeren Übungslektionen bei der Bodenarbeit nur durchführen, wenn ihr Pferd in jedem Moment willig mitarbeitet. Zeigt das Pferd kleinste Anzeichen für Unlust oder Verweigerung – etwa, indem es die Hufe in den Boden stemmt und einfach stehen bleibt –, wird sie kurzatmig, bekommt Herzklopfen, ihr Körper wird fest und starr. Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und ein Gefühl von Ohnmacht überkommen sie. Sie fühlt sich nutzlos und ist unfähig, die Übung erneut anzugehen, und dafür schämt sie sich jetzt auch noch. Traurigkeit steigt in ihr hoch, fast möchte sie weinen. Und ganz tief innen in ihr ist Wut.

Noch schlimmer ist es, wenn Anja bei den Übungen in einem ungünstigen Winkel zum Pferd steht, was das Pferd zum Zurückweichen veranlasst: Sie fühlt sich von ihrem Pferd abgelehnt, ihr wird schwindelig und sie bekommt urplötzlich Angst vor ihrem Pferd. Und dann ist da noch ein schlechtes Gewissen, dass sie von ihrem geliebten Pferd „so etwas Schwieriges“ verlangt, obwohl es offenbar keine Lust dazu hat.

Anja versteht die Welt nicht mehr. Sie ist erfahren in der Bodenarbeit, und so etwas ist ihr mit anderen Pferden, mit denen sie gearbeitet hat, bevor sie sich ein eigenes Pferd kaufte, nie passiert.

Das Pferd wertet weder positive noch negative Gefühle. Wir dürfen so sein, wie wir uns gerade fühlen. Foto: Felix Möckel

Wenn uns in unserer Kindheit von unserer Bezugsperson das Gefühl vermittelt wurde, dass wir nicht mehr Zuwendung fordern dürfen, als wir bekommen, fühlen wir uns später schnell unmäßig in unseren Forderungen und haben ein schlechtes Gewissen, wenn wir von einem geliebten Wesen etwas mehr verlangen. Wenn wir dafür früher sogar bestraft wurden, kann das später zu Angstgefühlen führen, wenn wir etwas fordern – egal was und egal von wem. Angstauslösend können auch häufige unkontrollierte Wutanfälle früherer Bezugspersonen sein.

Früh traumatisierte Menschen fühlen sich schnell in ihrer ganzen Person abgelehnt und unerwünscht. Wer sich sehr früh in seinem Leben abgelehnt fühlte, lehnt sich später selbst ab. Abwertung führt zu Selbstabwertung: „Ist ja typisch, dass mir das wieder passiert …“ Das Gefühl, Ansprüchen nicht zu genügen, führt zu Versagensängsten und in der Folge zu tatsächlichem Versagen. Die Stimmen von außen werden zur eigenen Stimme.

In beiden Beispielen projizieren die Besitzerinnen in ihre Pferde unbewusst Gefühle, die eigentlich für einen Menschen bestimmt sind. Das überfordert die Pferde und weist ihnen eine Rolle zu, die sie nicht übernehmen können. Pferde fühlen sich nur dann wohl mit uns, wenn wir sie einfach „Pferd“ sein lassen. Darüber hinaus sind wir in solchen Momenten nur mit uns und unserem Gefühlschaos beschäftigt; wir können unseren Pferden in einer solchen Verfassung keine Sicherheit geben. Wir stürzen sie in Verwirrung und Unsicherheit und überlassen sie führungslos sich selbst.

Was tun?

Der traumatisierte Mensch kann seine Beziehung zum Pferd nur dann auf neue Füße stellen, wenn er bereit ist, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Ein Trauma belastet nicht nur die Seele, es ist abgespeichert im Körper, insbesondere in Muskeln, Bindegewebe und Nervensystem. Da ein Trauma nicht empfänglich ist für die Signale des Verstandes, der uns vielleicht sagen will, dass „alles nicht so schlimm und lange vorbei“ ist, helfen alle Arten von „Redetherapien“ nicht viel, zumindest nicht nachhaltig. Das Gleiche gilt für Mentaltraining, das durch positive Gedanken verstandesmäßige Prozesse beeinflussen will. Es gibt eine Reihe bewährter Therapiemethoden, zum Beispiel Hypnotherapie, EMDR oder aber körpertherapeutische Verfahren, insbesondere somaticexperiencing, die ohne große Worte direkt an den körperlichen Manifestationen des Traumas ansetzen.

Oft dient das Pferd als Katalysator von negativen Gefühlen.
Foto: Felix Möckel

Hypnotherapie

– Therapeut versetzt Klient in hypnotische Trance, Zugang zu unbewussten Prozessen und Veränderungsarbeit im Tiefenentspannungszustand, Kontrolle bleibt beim Klienten.

EMDR

– Eye Movement Desensitization and Reprocessing = Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen, Klient folgt Handbewegungen des Therapeuten mit den Augen, durch beidseitige Stimulation wird Synchronisation unter den Gehirnhälften und damit Reorganisation der Traumaerfahrung ermöglicht.

Somatic Experiencing

– Therapeut greift Körpererinnerungen (z.B. Haltungsänderungen)
auf und macht sie bewusst. Bei vollständigem, wohldosiertem Durchlaufen des natürlichen Reaktionsschemas erholt sich der Organismus spontan.
(Quelle: Wikipedia)

Alle Menschen tragen in sich ein großes Potenzial an Selbstheilungskräften. Sie können diese Kräfte gezielt stärken und einsetzen. Wenn Sie sich früher „nicht richtig geliebt” fühlten, können Sie lernen, sich selbst zu lieben. Es gibt Methoden, die Ihnen dabei helfen: Üben Sie sich in Meditation und Achtsamkeit. Sie lernen dadurch, die feinen Signale Ihres Körpers zu spüren, Ihren Körper zu entspannen und überflüssige, belastende Gedanken auszuschalten.

Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken und Talente und richten Sie Ihr Leben danach aus. Hierzu gehören auch ein Beruf oder eine Ausbildung, die zu Ihnen passen. Pflegen Sie nur solche Beziehungen, die Ihre positiven Energien zum Fließen bringen; halten Sie sich von destruktiven, entmutigenden Menschen und Situationen möglichst fern. Auf diese Weise werden andere Menschen und andere Umstände in Ihr Leben treten. Werte wie Dankbarkeit, Achtung, Wertschätzung, Mitgefühl – sich selbst und anderen gegenüber – und am Schluss die bei der Traumaverarbeitung so wichtige Vergebung können ganz normale Bestandteile Ihres Lebens werden, so normal wie das Striegeln Ihres Pferdes.

Nicht nur der Mensch, sondern auch das Pferd verdient es, wieder Spaß zu haben. Foto: Felix Möckel

Ob Sie nun therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen oder nicht: Wenn Sie den Verdacht haben, dass in Ihnen ein altes Trauma schlummert, das Sie – und Ihr Pferd! – immer wieder beeinträchtigt, sollten Sie etwas in Ihrem Leben ändern. Sich selbst und Ihrem Pferd zuliebe.

Mechtild Blankenagel

Sie weiß seit zehn Jahren, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Pferd all ihre Stärken und Schwächen spiegelt. Ihr 19-jähriger Wallach Zilio ist ihr größter Lehrer. Als systemische Therapeutin berät sie Familien, Paare und Einzelpersonen. Darüber hinaus ist sie Autorin; ihre Kurzgeschichten liest sie regelmäßig an verschiedenen Plätzen Berlins.